Fahrräder wohin das Auge reicht. Zugegeben: Die Niederlande kennt man als Land der Zweiräder. Dies gilt auch in Amsterdam. Die Metropole beherbergt neben circa 850.000 Einwohner*innen etwa 880.000 Fahrräder. Das stellt die Mobilitätsstruktur in der niederländischen Hauptstadt vor – für uns in NRW – ungewohnte Probleme, denn: Wie organisiert man die Verkehrswege in einer Stadt, in der es mehr Zweiräder als Menschen und zudem noch Massen an Fußgänger*innen und Autofahrer*innen gibt?
„Plusnetten en Hoofdnetten“
Diskussionen und Planungen für bessere Radwege gibt es in NRW aktuell viele – in unserem Nachbarland steht die große Diskussion darüber, wie alle Verkehrsarten zusammengebracht werden können, schon seit mehr als 40 Jahren ganz oben auf der Agenda. Bereits 1979 wurde die Grundlage für die „Plusnetten en hoofdnetten infrastructuur“ (Plusnetz-und-Hauptnetz-Infrastruktur) geschaffen. Um das Radfahren als umweltfreundliche und sichere Fortbewegungsart zu stärken, wurden Straßenbereiche bestimmt, in denen verschiedene Verkehrsmittel Vorrang haben. Im sogenannten „Fahrrad-Plusnetz“ genießen Radfahrer*innen Priorität. Das spiegelt sich sowohl im infrastrukturellen Ausbau von Radwegen (Ausbau und Breite) als auch bei der Ampelschaltung wider. Sofern Pkw überhaupt in Fahrradnetzen unterwegs sein dürfen, müssen sie ihre Geschwindigkeit anpassen, haben keinerlei Vorfahrtsrechte und müssen warten. Den Verkehrsteilnehmer*innen sollen schnelle und sichere Routen geebnet werden, auf denen der Radweg deutlich breiter als gewöhnlich ist – oder die Wege komplett aus Fahrradstraßen bestehen.
Schritt für Schritt zum optimalen Verkehrsnetz
Aber der Verkehr soll nicht nur auf das beliebte Zweirad beschränkt bleiben. In Amsterdam gibt es Plusnetze für den Fußverkehr, die Metro, die Straßenbahn und den Bus, aber auch für den Autoverkehr. So wird versucht, die Probleme eines jeden Verkehrsmittels bestmöglich zu lösen: Trams und Busse wollen in ihren bevorzugten Netzen ihre Verlässlichkeit und Pünktlichkeit optimieren, Fußgänger*innen sollen Hindernisse genommen und sichere Übergänge garantiert werden. Für den trotz allem noch hohen Pkw-Verkehr im Zentrum Amsterdams ist damit nicht mehr viel Platz, sodass Maßnahmen zur weiteren Reduzierung ergriffen werden. Parkplätze können mit Hilfe verschiedener Apps schneller gefunden werden, damit unnötige Fahrten durch die Stadt vermieden werden. Allerdings sind die Parkgebühren enorm hoch und Amsterdamer Parkhäuser zählen zu den teuersten in Europa: Für eine Parkdauer von einem Tag zahlt man bis zu 80 Euro. Auch die Parkplätze für Anwohner*innen sind ein echtes Luxusgut, liegen bei mehr als 500 Euro pro Jahr. Durch das System der Haupt- und Plusnetze kann es für Pkw-Nutzende häufig zu Umwegen kommen, aber auch das ist ein Effekt des Verkehrssystems. Trotz längerer Strecken kommt man schneller ans Ziel als über Straßen, in denen man anderen Fortbewegungsmitteln den Vortritt lassen muss.
Alles unter einem Hut
Auch in Sachen Nachhaltigkeit und Umweltschutz ist Amsterdam vorne dabei und rangiert auf Platz sechs der grünsten Städte Europas. Die Maßnahmen im Zentrumsbereich stehen stets unter der Prämisse, Mobilität grüner, umweltfreundlicher und innovativer zu machen und in den kommenden Jahren von fossiler auf nachhaltige Energie umzusteigen. Bereits 2025 will die Stadt einen komplett emissionsfreien Verkehr abbilden und die urbanen Räume lebenswerter gestalten. All diese Maßnahmen fallen unter „Amsterdam Smart City“ als Teil des „Amsterdam Economic Board“. Der Pool an umweltfreundlichen Verkehrsmitteln umfasst autonome Boote, moderne Busflotten und Scooter – allesamt elektrisch betrieben.
Smart City auch auf Wasserwegen
Nicht nur die Massen an Fahrrädern, sondern auch die berühmten Grachtenkanäle gehören zur niederländischen Hauptstadt. Und diese bieten weitere Möglichkeiten, Verkehrsströme zu verlagern und Ressourcen umweltschonend einzusetzen. Von allen angebotenen Verkehrsmitteln in der Stadt ist „Roboat“ das jüngste Projekt. Im Oktober 2021 sind zwei Boote in die Testphase gestartet, um die Transportfähigkeiten von Menschen und Waren zu erforschen und Routen zu erlernen. Dank der Anwendung der optischen Methode LIDAR („light detection and ranging") und diverser Kameras haben die schwimmenden Transportmittel eine 360-Grad-Sicht, mittels derer sie die Umgebung wahrnehmen und abspeichern. Der eingespeiste Algorithmus sorgt dafür, dass einmal gesehene Objekte wiedererkannt werden. Trifft ein Boot auf seiner Fahrt z. B. auf ein Kanu, wird dieses gespeichert, von den Administratoren als „Kanu“ gekennzeichnet und beim nächsten Zusammentreffen als solches wiedererkannt. Durch spezielle Mechanismen zur Verriegelung sind die Roboter-Boote zudem im Stande, sich an Stationen anzudocken und Brücken mit anderen Booten zu bilden.
Ein Vorbild für NRW?
Roboats werden in naher Zukunft wohl kaum über Rhein und Ruhr schippern, doch der Weg zu autofreien Innenstädten ist auch in NRW geebnet. Viele Großstädte arbeiten schon daran, emissionsfreie bzw. -arme Verkehrsmittel in ihren Stadtzentren zu etablieren – durch Mobility-as-a-Service. Die Angebote in den NRW-Städten werden vielseitiger und flexibler. Der Radverkehr gilt zunehmend als wichtiger Bestandteil der Mobilität der Zukunft und gewinnt durch die Anpassung von Ampelschaltungen und die Investitionen in Sicherheitsvorkehrungen vielerorts an Attraktivität. Mit dem Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz (FaNaG NRW) vom November 2021 garantiert Nordrhein-Westfalen als erstes Flächenland Deutschlands eine regelmäßige Förderung für den Ausbau des Fuß- und Fahrradverkehrs. Durch ein Radvorrangnetz und die Gleichsetzung des Rad- und Fußverkehrs mit dem motorisiertem Straßenverkehr werden die Prioritäten im öffentlichen Raum neu gesetzt. Damit stehen die Signale für ein Verkehrssystem nach Amsterdamer Vorbild auf Grün.